Sonntag, 7. April 2013

Die Halde

Ich setze mich in's Auto und fahre los. In zwei Minuten bin ich da. Ich steige die Himmelstreppe hoch.

Auf meinem Weg nach oben laufe ich an einer Familie vorbei. Es ist Wetter wie dieses, das verkündet, dass irgendwo doch noch ein Frühling und vielleicht gar ein Sommer wartet und gleichsam die Menschen anzieht. Als es die Treppe noch nicht gab, war man immer alleine oben - höchstens die besten Freunde waren um einen gescharrt. Ein Kind der Familie zählt die Stufen. Ich vermute, dass ihm bei 40 die Lust vergehen wird. Süß ist es trotzdem.

Auf dem Weg stehen Leute zwischen den Treppensegmenten und verschnaufen. 103 Höhenmeter wollen erstnal erklommen sein. Oben angekommen flieht zu meiner linken ein Ginger-Kind lautstark vor einer Biene. Merkwürdig, ich dachte immer, Bienen stechen nur Menschen mit Seelen. Zu meiner rechten stehen ein älterer Mann und eine sicher zehn Jahre jüngere Frau in der Sonne. Er macht Fotos von ihr. Sie wirken sehr vertraut, vermutlich hat die Liebe über den Altersunterschied gesiegt.

Ein paar Menschen lassen Drachen steigen oder starten mit Fallschirmen zum Flug zum Fuße der Halde. Irgendwie beruhigend, diese lautlose Bewegung in der Luft. Am Boden steht immer jemand und blickt erwartungsvoll oder bewundernd in die Höhe. Es ist doch jeder ein Träumer.

Ich suche mir einen schönen Platz in der Sonne und setze mich mit meinem Buch auf den warmen Stein. Unweit von mir vergnügt sich eine Gruppe junger Türken. Mir schallen überraschend leise Balkan-Beats entgegen, ich höre eine fremde Sprache und schnappe ein paar Beleidigungen und Angebereien auf. Bei ihnen ist der Umgang untereinander immer so. Sie zünden ein kleines Feuer an und fragen jeden, der vorbeikommt, nach Taschentüchern.

Immer mal wieder kommt ein vorwiegend älteres Pärchen zu meinem Ort. Sie blicken einige Sekunden in die Ferne und drehen wieder um. Heute ist die Sicht fast so klar wie gestern. Nur Richtung Osten hängt die Dunstglocke über dem Ruhrgebiet. Irgendwo dort liegt vermutlich meine zukünftige Heimat. Und meine Zukunft. Ich vergesse das Lesen und komme in's Träumen. Irgendwie verstehe ich alles. Doch ist mein Kopf voller Paradoxen, ein Wirrwarr aus Gedanken, die alle für den Bruchteil einer Sekunde Sinn ergeben und sich ständig verändern. So ist das, wenn man sich Gedanken macht. Ich sitze schon lange nicht mehr alleine hier, obwohl man neben mir keinen Menschen sieht.

Ein kleines Mädchen kommt mit seinem Hund. Ich weiß nicht, wie oft ich den Namen "Kira" in den kommenden 30 Minuten höre. Wäre ich ein alter verbitterter Mann, würde ich mich wohl an ihr stören. Süß ist es trotzdem.

Eine Schülerin der Oberstufe taucht mit ihrem Opa auf. Sie setzen sich neben mich. Mir fallen tausend Geschichten ein, traurige wie frögliche. Die beiden blicken verträumt gen Horizont. Sie hat einen Fotoapparat dabei. Sie reden über ihr Hobby. Zwischendurch macht er eine Anmerkung über die Deutschtürken: "Man möchte glauben, das sei eine Karikatur, aber die sind ja wirklich so." Ich stimme hörbar in ihr Lachen ein, wir werfen uns kurz sympathisierende Blicke zu, ich träume lächelnd weiter.

Ich bin frei und inspiriert. Ich denke Dinge, die keiner denkt. Ich weiß, was ich will. Meine Halden-Katharsis ist beendet und ich mache mich wieder auf den Weg nach unten. Beim Abstieg fällt mir ein, dass auf dem Hinweg ein Auto über rot gefahren ist und mich fast erwischt hätte.

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